Das Gefühl
Marie läuft von der Theaterprobe nach Hause. Niemand kommt ihr auf der Straße entgegen, keine Kinder spielen in den Gärten. Kein Wunder, denkt sie, es ist ja auch nicht die richtige Zeit für erholsame Spaziergänge. Ihre Mutter hatte ihr angeboten, sie mit dem Auto abzuholen. Aber sie wollte nicht. Der feuchte Nebel bewegt sich im Licht der Straßenlaternen. Sie spürt, wie er sich auf ihrer Stirn und ihren Backen niederlässt, kalt und nass. Die Ärmel ihrer dünnen Cordjacke sind so eng, dass sie die Hände nicht ins Warme nach innen ziehen kann. Bis zur Taille reicht die Jacke gerade, aber nicht weiter. Die enge Jeans schmiegt sich um ihre schlanken Beine und verschmilzt mit ihrer Haut. Es fühlt sich nackt an, ohne Hose. Die schicken, weißen Adidas Superstar Schuhe mit den glitzernden Seitenstreifen verwandeln sich in kalte Eishöhlen. Sie spürt ihre Muskeln nicht mehr, der Kiefer hat sich selbstständig gemacht und lässt die Zähne freudig aufeinander schlagen. Ihre Schritte werden immer kleiner und schneller, ihre Beine und Arme immer kälter und steifer. Finger hat sie keine mehr, nur noch Enden aus Glas, die in tausend Stücke zerspringen, wenn man sie berührt. Sie hält für zwanzig Schritte den Atem an, verschließt ihren Mund, damit die kalte Luft nicht auch noch in ihr Innerstes hineinkommt. Dann ein kurzes, schnelles Luftholen. Ihr warmer Atem flackert kurz auf in der Kälte. Wieder Lippen aufeinander pressen, zwanzig Schritte laufen. Eine Katze mit dichtem, samtgrauen Fell und funkelnden goldenen Augen sitzt auf dem Dach eines parkenden Autos und starrt sie an. Dir ist bestimmt mollig warm, denkt Marie und lächelt dabei. Ohne anzuhalten überquert sie die verlassene Straße in ihrem monotonen Rhythmus – zwanzig Schritte, kurzer Atemzug, Luft anhalten, zwanzig Schritte, kurzer Atemzug, Luft anhalten. Sie biegt nach dem großen Holzhaus links ab und spürt die veränderte Straßenoberfläche unter ihren Füßen. Ein ungeteerter, holpriger Weg liegt vor ihr, lang und dunkel wie ein Tunnel. Es gibt keine Häuser mehr, nur alte Eichen, deren kahle Äste ein morsches Dach über ihr bilden, durch das sie den Mond und die Sterne sehen kann. Es knackt. Marie bleibt augenblicklich stehen und schaut nach oben. Ein Eichhörnchen erobert mit einem beherzten Sprung die Krone und verharrt für einen Moment. Kannst du es sehen?, fragt sie in Gedanken das Tier und blickt wieder gerade aus. Da steht es, ganz am Ende. Klein und erwartungsvoll sie zu empfangen, sie aufzunehmen. Ihr Haus, ihre Höhle, ihr Nest. Vier große Fenster an der Vorderseite leuchten hell. Warmes Licht dringt von innen hinaus in die Dunkelheit und erleuchtet einen Teil des kargen Gartens. Die Sommermöbel stehen verlassen auf der Terrasse. Der Schornstein ragt mächtig und erhaben in der Mitte des Daches empor und stößt leichten Qualm nach draußen. Marie beginnt zu laufen. Ihre Schritte werden größer, ihre Arme beginnen, sich der Bewegung ihrer Beine anzupassen und mitzuschwingen. Ihr Mund öffnet sich und saugt viel Sauerstoff nach innen. Ihre Lunge schmerzt. Sie erhöht das Tempo. Ihre Beine gehorchen ihr, obwohl sie sie kaum mehr spürt. Schneller. Kleine, spitze Kieselsteine stechen in ihre Fußsohlen. Aber das ist egal. Es dauert ja nicht mehr lange. Marie steht vor der großen zweiflügligen Holztür, links und rechts leuchten hell zwei Laternen aus Eisen und Glas, die an geschwungenen Haken an der Hauswand befestigt sind. Es ist eine Pforte, denkt sie. Ein grüner Kranz, mit Tannenzapfen verziert, hängt an einem dicken, roten Satinband in der Mitte der Tür. Darunter ist ein kleines silbernes Metallschild angebracht, auf dem in Schreibschrift ein Wort eingraviert ist. In der eisigen Luft liegt der Geruch von verbranntem Holz. Leise Stimmen aus dem Inneren sind zu hören. Lachen. Marie grinst und klopft voller Erwartung mit der Faust gegen die Tür. Ihre Zähne klappern wieder. Während sie wartet liest sie das Wort auf dem Schild laut vor: „Willkommen“
Da öffnet sich die Tür, Marie tritt ein und wird von warmer Kaminluft empfangen, die sich wie eine flauschige Decke um sie legt. Die Kälte ist weg, ausgesperrt. Marie schließt ihre Augen. Sie lässt alle Luft langsam und gleichmäßig durch ihren Mund aus ihrem Körper strömen, bis sich ihre Lunge leer und zusammengefallen anfühlt. Sie schließt ihren Mund. Für einen Moment ist sie reglos. Dann atmet sie sanft durch die Nase ein – und da ist er: der bezaubernde Weihnachtsduft von Zimt und Orangen, Vanille und frisch gebackenen Plätzchen. So süß, so stark, so unwiderstehlich.
Marie öffnet die Augen. Sie spürt tiefstes Wohlsein. Ihre Mutter begrüßt sie mit einer festen Umarmung.
Ihr Vater sitzt auf der Couch vor dem Kaminfeuer und schaut sie verheißungsvoll an: „Es gibt Plätzchen und Tee“.
Während Marie in der Garderobe Jacke und Schuhe verstaut murmelt sie leise vor sich hin: „Was man alles auf sich nimmt für dieses Gefühl“.
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