Paradiesäpfel, Früchte des Zorns
Anne schloss ihren Garten auf. Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten. Tomaten, Mais und Kartoffeln wuchsen, wie und wo sie sollten: 400 Quadratmeter Glückseligkeit – bis auf die Wühlmaus vielleicht. Auf ihre Tomaten war Anne besonders stolz. Es war der Fischtrick, der ihr gutes Wachstum beförderte. Ein Stück toten Fisch mit ins Pflanzloch gebuddelt, schon wuchsen die Tomaten wie im Garten Eden. Süßwasserfisch, am besten bio. DIY – do it yourself. Anne hatte die Selbstversorgerwelle zunächst mehr belächelt. Bärtige junge Väter erklärten auf irgendeinem Youtube-Kanal, wie man am besten Weißkohl, Mangold oder Basilikum anbaute, ihre Berichte nur dadurch unterbrechend, dass sie ihrem Nachwuchs oder alternativ dem freilaufenden Mischlingshund so liebevoll wie geistesabwesend über den Kopf streichelten.
Anne hatte wohl zu viele dieser DIY-Filmchen gesehen und befand sich trotz Fulltimejob an der Uni plötzlich mittendrin in dieser Welle: unbelastetes Gemüse aus unpatentiertem Saatgut den Riesenkonzernen zum Trotz selber anbauen. Gesünder für Geist und Seele ging es nicht. Vorausgesetzt, der Boden war unbelastet.
Anne fing an zu buddeln und sah zum Nachbargarten hinüber. Ellas Tomaten standen dieses Jahr aber auch besonders gut, das musste der Neid ihr lassen. „Moin, Ella!“, rief sie zur Parzelle 9 hinüber. Dabei war Ellas Tomatenpech in den letzten Jahren legendär gewesen. Alles wuchs bei ihr, nur Tomaten nicht. Schon gar keine Freilandtomaten – eigentlich. „Ich will heute mal den Boden testen“, rief Anne und winkte ihrer Nachbarin mit dem Testkit in der Hand zu.
„Ach was. Warum?“ Ella kam an den Zaun geschossen, den sie kaum überragte. Ein Meter sechzig quirlige Lebendigkeit. Sie war die erste Kassiererin des Kleingartenvereins. Der Garten und der Verein waren ihr gesamter Lebensinhalt. Damit teilte sie ihre unbedingte Leidenschaft mit den übrigen Mitgliedern des Vorstands. Erst kam der Garten, dann lange nichts. Ella wusste einfach alles, kannte jede Pflanze, jeden Wildwuchs und was sonst so bei den Mitgliedern des Vereins los war. „Brauchst du nicht, der Boden hier ist super. Alle zwei Jahre bisschen Kalk und schon ist der pH-Wert im grünen Bereich. Zeig mal.“ Ella streckte ihre Hand aus und Anne legte verdutzt das Testkit hinein.
„Es geht mir gar nicht um den Säuregehalt. Ich wollte eine Bodenprobe auf Schwermetalle untersuchen. Hier stand doch mal die Aluminiumfa...“
„Papperlapapp.“ Ella unterbrach sie. „Der Boden hier ist damals von der Stadt komplett ausgekoffert worden und wir haben alles schön mit frischem Mutterboden versorgt. Da ist nix.“ Ella warf das Testkit hinter sich auf die Schubkarre mit Grünschnitt. „Les‘ ich mir mal in Ruhe durch.“
„Ich dachte nur“, wandte Anne ein, „Anfang Mai war doch der Professor bei euch in der Vorstandssitzung.“
„Ja, auch ein Geologe. Kennst du den etwa?“ Ella schirmte ihre Augen mit der Hand ab und blinzelte zu Anne hoch.
„Nein, nicht wirklich. Der forscht zu einem anderen Thema. Mein Fachgebiet ist die Auswirkung der Bodensenkung auf die Wasserwirtschaft im Ruhrgebiet als Folge des Kohlebergbaus. Aber ich hab‘ den Professor Dr. Berthold von Sonnentor – adelig und Professor noch dazu – mal gegoogelt, nachdem durch die Presse ging, dass er verschwunden ist. „Weißt du, woran er forscht?“
Mmh?“ Ella nahm ihre Hacke und fing an, die Erde neben ihren Tomaten zu lockern. „Nee, weiß ich nicht. Der ist ja nie wieder aufgetaucht.“
„Eben. Das fand ich auch so komisch.“ Anne senkte die Stimme. „Willst du wissen, woran der geforscht hat?“
„Irgend so was Gescheites halt.“ Ella hackte weiter.
„Nein – ja klar, also“ - Anne flüsterte fast -, „der hat zur „Bodenkontamination auf dem Gelände von Kleingärten im Kontext der Erschließung von Industriebrachen“ geforscht. Er war an was dran, glaub mir.“
Ella blickte kurz hoch. „Ja. Aber nicht bei uns. Wir sind sauber. Oder sehen meine Tomaten etwa kontaminiert aus?“
„Nein, nein.“ Anne winkte ab. „Die Tomaten sind dir dieses Jahr wirklich gut … Obwohl, schau mal. Irgendetwas Metallenes hat dir die Wühlmaus da doch hochgegraben.“ Anne deutete auf ein glänzendes Metallstück direkt neben Ellas Fleischtomate. „Zeig mal, sicher noch ein Stück Aluminium.“
Ella bückte sich und reichte ihr das Fundstück. Anne klopfte die Erde ab, zog ein Stöckchen heraus und hielt inne. „Ist ja irre! Sieht aus wie ein Siegelring.“ Sie rückte ihre Brille zurecht und äugte durch den Leseteil. Jetzt sah sie aus wie die Forscherin, die sie eigentlich war, bei der Bestimmung eines Gesteinsbrockens. „Ja, sicher. Ein Siegelring, schau mal.“ Sie deutete mit ihrem kleinen Finger auf die Fläche mit einer Gravur. „Ich würde sagen, eine Sonne und ein Tor. Was meinst du?“ Sie reichte Ella den Ring zurück über den Zaun. „Vielleicht hat jemand einen Goldschatz unter deinen Tomaten vergraben. Da würde ich mal weiterbuddeln an deiner Stelle.“
Erschrocken sah Ella auf. „Die Tomaten bleiben stehen, das ist mal sicher!“
Anne hob beschwichtigend die Hände. „Niemand tut deinen Tomaten etwas. Dein Garten ist heiliges Land, weiß ich doch jetzt.“ Sie lächelte Ella an. „Schönen Tag noch, Ella. Den Test kannst du übrigens behalten, ich muss gar nicht wissen, ob neben dem Gold auch noch Blei im Boden ist.“
Anne klopfte die Erde von den Arbeitshandschuhen und baute sich den Liegestuhl auf. Was für ein Paradies. Sie hatte es nicht zu hoffen gewagt, dass es so einfach sein würde. Jetzt wusste sie wenigstens, wo genau Prof. Dr. Berthold von Sonnentor seine letzte Ruhe gefunden hatte. Ihr Erzrivale, für immer zum Schweigen gebracht. Sie hatte sich nicht einmal die Hände dafür schmutzig machen müssen. Nie wieder würde er einen Hetzartikel über sie und ihre Forschungsarbeiten in der Fachzeitschrift „Der Geologe“ verfassen, sie nie wieder auf den Kongressen in Podiumsbeiträgen vor der Fachöffentlichkeit lächerlich machen. Er würde für immer schweigen und Ellas Tomaten von unten düngen. Anne selbst hatte ihn darauf angesetzt, ihm den Tipp gegeben und ihm ein Röhrchen mit der völlig verseuchten Erde aus ihrer Parzelle gleich mitgeschickt. Er war voll drauf angesprungen, der alte Ehrgeizling, und hatte sich zur Vorstandssitzung eingeladen. Und der Vereinsvorstand hatte offensichtlich ganze Arbeit in der Verteidigung des Paradieses geleistet. Was sie machten, machten sie gründlich. „Invasive Arten müssen vernichtet werden“, hörte sie die Stimme des Fachberaters aus dem Vereinsvorstand bei jeder Gelegenheit wiederholen. Ob sie ihn nach ihrer Vorstandssitzung im Mai gleich zerlegt hatten, den Eindringling Professor Dr. von und zu? Sie würde in den nächsten Tagen mal nachsehen, bei welchen der Vorstandsmitglieder die Tomaten jetzt auch besonders gut standen. Schade eigentlich, dass man sämtliche Früchte in dieser Kleingartenanlage wegen der Schadstoffbelastung wirklich nicht essen konnte. Aber das blieb ihr kleines Geheimnis. Ob auch Blei im Boden war, würde sie ein anderes Mal testen. Anne blinzelte in die Sonne. Und die Wühlmausbekämpfung sollte sie auch bald in Angriff nehmen.