Das geschlossene Zimmer
Es ist Herbst und noch nicht sehr kalt. Dennoch friere ich den ganzen Tag. Ich friere auf dem Weg zu der Wohnung und als ich vor dem Eingang auf meine Verabredung warte. Ich friere, als wir durch das Treppenhaus gehen und noch mehr, als wir die Wohnung betreten. Anscheinend ist der Strom in der Wohnung bereits abgestellt. Die Frau fummelt an dem Sicherungskasten im Flur, um etwas Licht in die einsetzende Dämmerung zu bekommen.
„Es ist nicht schlimm“, sage ich. „Ich bleibe nicht lange und ich sehe noch genug.“ Doch dann klackt es und die kleine Deckenlampe wirft gelbes Licht auf die altbackene Einrichtung. In der Wohnung herrscht ein oberflächliches Durcheinander. Ich kann nicht ausmachen, ob er es hinterlassen hat oder ob bereits Leute hier gewesen sind, die nachsehen wollten, ob sie etwas von den Hinterlassenschaften brauchen konnten. Als ich mich ein Stück vorwärts bewege, knarrt der Fußboden mit jedem Schritt anklagend unter meinen Füßen. Ich werfe einen Blick in die Küche. Auch alles gelb und alt. Eine eingewebte Küchenuhr tickt vorwurfsvoll vor sich hin. Vorsichtig gehe ich ein Stück weiter und sehe mir das Wohnzimmer an, dass wohl gleichzeitig auch als Schlafzimmer gedient hat. Wenn man genauer hinsieht, erkennt man in den Schränken und Regalen die Korrektheit und Ordnung, die man von ihm gewohnt war. Die Bücher sortiert nach Autor, die CDs sortiert nach Kategorie und Interpret. Unzählige geknüpfte Teppiche an den Wänden, offensichtlich in stundenlanger Arbeit von ihm selbst gefertigt. Aber nicht ein einziges Foto. Ich finde weder ein Foto von ihm selbst noch von Familienangehörigen oder Freunden. Die Wohnung riecht muffig und nach Einsamkeit.
Die Vergangenheit holte mich an einem Sonntagmorgen ein. Ich saß mit meiner Frau und den Kindern am Frühstückstisch bei frischen, duftenden Brötchen, Orangensaft und Gemütlichkeit und wollte nur wie immer den Sportteil lesen. Beim Durchblättern der Zeitung traf mich der Schlag. Den Rest des Tages nahm ich nur durch einen Nebel hindurch wahr. Ich schlief schlecht in der Nacht. Heute Morgen überlegte ich, was ich tun sollte. Dann telefonierte ich. Ich fragte mich durch und erreichte eine Verwandte, die sich um seinen Nachlass kümmert. Ich fragte sie, ob es möglich wäre, einen Blick in seine Wohnung zu werfen. Ich wollte nichts haben. Ich wollte nur gerne Abschied nehmen. Die mir fremde Frau zeigte sich erstaunlich mitfühlend und wir verabredeten uns für den späten Nachmittag und hier bin ich nun, unschlüssig, ob das alles so richtig ist und dennoch kann ich nicht anders.
Ich strecke die Hand aus und will das letzte noch geschlossene Zimmer öffnen. Das Zimmer, das mir so gut bekannt ist. Die Tür hakt und klemmt und weigert sich aufzugehen. Ich atme tief durch, warte einen Moment. Dann drücke ich mit Kraft, sie gibt nach. Und ich stelle fest, dass alles hinter ihr noch genau so ist, wie ich es in Erinnerung habe. So, als wäre das Zimmer für Jahrzehnte konserviert gewesen. Die Zeit stehen geblieben. Es riecht sogar genauso wie damals, eine Mischung aus Staub und alten Möbeln. Ein Schauer läuft mir den Rücken hinunter.
„Das war sein Arbeitszimmer“, ruft mir die Frau aus der Diele durch meinen dicken Wahrnehmungsnebel hindurch zu.
„Ich weiß“, murmele ich vor mich hin. „Ich weiß!“
Ich gehe an dem kleinen dünnbeinigen Holztisch vorbei, der ihm als Schreibtisch gedient hatte, zu dem schwarzen alten Klavier, das hinten an der Wand steht. Die dicke Staubschicht verrät, dass es seit Ewigkeiten nicht benutzt worden ist. Mein Gott, wie viel Zeit hatte ich hier verbracht. Hatten wir hier verbracht. Ich war noch so jung gewesen. Unwillkürlich kommen mir Erinnerungsfetzen in den Kopf. Klassische Klavierstücke, die wir geübt haben. Eine Mischung aus Beethoven, flüchtigen Blicken, Herzklopfen, kleine Berührungen, seine Stimme. Meine Hände sind feucht, als ich über den Deckel des Klaviers fahre und der Staub bleibt unweigerlich an ihnen kleben. Alles ist kleben geblieben an mir. Hat Dinge geweckt in mir. Sehnsüchte. Hatte innere Kämpfe in mir ausgelöst. Wer ich bin und wer ich sein wollte. Sein sollte. Ich hatte alles verdrängt in all den Jahren.
„Woher kannten Sie meinen Onkel denn?“, kommt wieder diese Stimme durch den Nebel zu mir herüber.
„Er war mein Lehrer“, antworte ich leise. „Und er hat mir das Klavierspielen beigebracht.“ Ja, das hatte er. Und noch andere Dinge. „Was können Sie mir über seine letzten Jahre sagen?“, frage ich, als ich aus meiner Gedankenwelt langsam wieder in die Wirklichkeit zurückkomme.
„Da gibt es nicht viel zu erzählen“, antwortet sie. „Er war sein ganzes Leben lang allein. Eigentlich kenne ich keinen anderen Menschen, der so viel alleine war wie er“, überlegt sie und setzt hinzu: „Wir müssen langsam gehen, ich habe gleich noch einen Termin.“
Sie dreht sich um und geht zurück in die Diele. Ein letztes Mal will ich sein altes Notenbuch in die Hand nehmen. Ein Zettel fällt heraus. Ein vergilbter Zeitungsartikel: „Lehrer verliert Beamtenstatus nach Verdacht auf Affäre mit minderjährigem Schüler“. Reflexartig stecke ich den Artikel in meine Jackentasche. Ich schaue mich um, sie ist am Sicherungskasten beschäftigt, sie hat nichts gesehen. Schnell stelle ich alles wieder so hin, wie es war und folge ihr aus der Wohnung heraus. Heraus aus der Vergangenheit. Ich presse die Lippen aufeinander. Ich gehe und ich blicke nicht zurück. So wie ich es damals schon einmal getan habe. Ich gehe zurück in das Leben, das ich für mich ausgewählt habe. Zu meiner Familie. Und ich bin froh, dass ich nicht einsam bin. Ich habe Fotos an den Wänden, die das bezeugen können. Von mir, meiner Familie, meinen Freunden.
Ich bin nicht einsam. Ich bin nicht so wie er. Ich umklammere den Zettel in meiner Jackentasche. Bin ich doch nicht, oder?