Ergebnisoffen
Die Schatten der Nacht hielten Änni wach. Zwei Tage war das Gespräch nun her. Der Termin rückte endlich in greifbare Nähe. Konfliktberatung nannten sie das, als ob es je einen Konflikt gegeben hätte.
„Sie wissen, dass wir dieses Gespräch ergebnisoffen führen?“, hatte die Beraterin zur Eröffnung gefragt.
Was man so ‚ergebnisoffen‘ nennt, dachte sich Änni, während sie höflich nickte. Man würde ihr im Gespräch Wege aufzeigen, anders zu entscheiden, als sie längst entschieden hatte. Am Ende zählte aber nur die Bescheinigung, dass sie dort gewesen war. Und dies war dann ihre Ein- oder besser gesagt die Austrittskarte aus der ganzen Affäre. Danach hatte sie noch drei Tage Bedenkzeit. Pah. Für sie gab es da nichts zu bedenken. An dem Tag, als sich dieser unsägliche zweite Strich auf dem Test gezeigt hatte, war sie einfach nur froh gewesen, dass sie sich Gewissheit verschafft hatte. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sie den ursprünglichen Gedanken, ihr Zyklus sei durch früh einsetzende Wechseljahre durcheinander geraten, weiter verfolgt und damit den Zeitpunkt verpasst hätte.
Nun war alles in die Wege geleitet.
Vor dem Eingriff hatte sie keine Angst. Sicher würde ihr Körper ein paar Tage brauchen, um sich danach zu erholen. Und wer weiß, was für Kapriolen die Hormone mit ihr spielen würden. Änni war nicht 42 Jahre alt geworden, um solche Stimmungsschwankungen nicht als das zu erkennen, was sie waren: ein Trick der Natur, um das Überleben der Menschheit zu sichern. Abgesehen davon, dass die Menschheit gerade selbst dafür sorgte, sich von diesem Planeten zu eliminieren, würde der Nachwuchs auch ohne Ännis Beitrag so schnell nicht ausgehen.
An Mark hatte sie eine Textnachricht geschickt und ihm mitgeteilt, die nette kleine Affäre sei nun vorbei. Sie wusste sehr wohl, dass das verletzend war. Das war ihr Trick, damit keiner zurückkam. Vor allem bei Typen, die etwas auf sich hielten, hatte das immer funktioniert. Die anderen disqualifizierten sich zusätzlich, indem sie bettelten. Sie war dennoch erleichtert gewesen, als Marks „Das ist wirklich schade“ ihr bestätigte, dass er zur ersten Kategorie gehörte.
Eine Änni von Hohenlohe und ein Mark Kunz? Ich bitte Sie! Komisch, dass sie sich überhaupt mit ihm eingelassen hatte. Er entsprach nicht wirklich ihrem Beuteschema von Männern, die ebenso unnahbar waren wie sie selbst. Er hatte das Kunststück fertig gebracht, sie zum Lachen zu bringen und - das musste sie zugeben - sie auch im Bett überrascht. Aber für Änni hatte und würde es nie ein „und“ geben. Sie hatte gewusst, dass sie gehen musste, nachdem sie angefangen hatte, sich grundlos wohl mit ihm zu fühlen. Und leider zu lange gezögert. Dann hatte sich das Problem eingenistet.
Das würde nun übermorgen beseitigt. Es gab wirklich keinen Grund, warum sie sich die ganze Nacht im Bett herumwälzte. Die Vögel machten einen Höllenlärm. Der beginnende Tag leuchtete in ihr Zimmer. Als sie auf die Uhr schaute, war es zu spät für weitere Einschlafversuche. Sie würde aufstehen, zur Arbeit fahren, die eloquente, fähige Änni sein, um dann am Abend an einer fiesen Blasenentzündung zu erkranken, die ihr ein paar Tage Bettruhe verordnen sollte.
Sie schaltete den Wecker aus. Ein leises Ziehen im Unterleib erinnerte sie an ihre Blase. Benommen vom Schlafmangel wankte sie zur Toilette. Gerade, als sie sich wieder erheben wollte, spürte sie wieder dieses Ziehen. Es fühlte sich an wie ein Pfropfen, der sich nur unwillig aus einem Flaschenhals löste und erst ganz zum Schluss heraus flutschte, als hätte er nie Widerstand geleistet. Eine warme sämige Masse floss aus ihr heraus. Die Kloschüssel färbte sich erst hell-, dann dunkelrot. Für eine Millisekunde setzte Ännis Herz aus, bevor sie begriff, dass das was dort geschah, ein großer Segen war. Ihr `Problem` beseitigte sich gerade selbst. Würde Änni an Gott glauben, dies wäre der Moment, wo sie wüsste, dass er ihre geheimsten Gebete erhört hatte. Sie kämpfte die Tränen zurück. Seit jener einsamen Nacht, als sie ihre bodenlose Enttäuschung in die blütenrein gestärkten Kissen geheult hatte, hatte Änni nicht mehr geweint und sie würde sicher heute nicht wieder damit anfangen. Nicht einmal aus Erleichterung.
Ein paar Stunden später steckte wieder ein Pfropfen in ihrer Vagina, diesmal war es das Ultraschallgerät der Gynäkologin. Diese schaute aufmerksam in den Monitor und sagte nichts.
„Ist es weg?“, fragte Änni.
Frau Dr. Straub schaute sie an und schüttelte mit dem Kopf.
Änni versteifte sich. „Was soll das heißen?“
„Das Herz schlägt.“
„Aber, das waren solche Mengen Blut. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das kein Abgang gewesen sein soll.“
„Wissen Sie, in seltenen Fällen kann es trotz intakter Schwangerschaft zu solchen Blutungen kommen.“
Es folgte eine Erläuterung über die möglichen Ursachen, die Änni nur durch eine Nebelwand wahrnahm.
„Ja, aber doch nicht so stark, da waren richtige Klumpen dabei.“
„Es tut mir wirklich leid, das ist der Befund“, sagte die Ärztin. Sie griff mit der Hand an den Monitor und drehte ihn entgegen der ursprünglichen Abmachung langsam in Ännis Richtung. Unfähig, ihr Einhalt zu gebieten oder den Blick abzuwenden, starrte Änni auf das pulsierende graue Etwas in einem dunklen Kreis, auf das Frau Dr. Straub jetzt zeigte.
„Sie werden morgen doch zu Ihrem Termin gehen müssen, es sei denn…“
Änni riss sich von dem blinkenden Punkt los und blickte die Gynäkologin an. Es sei denn? Was wollte sie damit sagen? Aber was Änni im Blick der Ärztin sah, war kein Überredungsversuch, keine heimliche Erwartung, sondern eine absolut offene, nicht einmal eine fragende Haltung. Und genau das ließ Änni geradezu panisch werden. Auf einen Überredungsversuch wäre sie gefasst gewesen, aber das hier. Vor Änni breitete sich ein unendliches Vakuum aus, das sie zu verschlingen drohte, wenn sie sich nicht mit aller Kraft dagegen stemmte. Es sei denn… Nein, nein, nein. Schlagartig war Änni wieder da.
„Ich werde dort sein!“
Am folgenden Tag saß Änni im Taxi auf dem Weg in die Tagesklinik. Ein kräftiger Frühlingsregen spülte gelben Pollenschleim in den Rinnstein. Zeugnis der Verschwendung, mit der die Natur neues Leben produzierte. Überall aufgeplatzte Knospen mit schlaffen Blüten, unfertiges grünes Zeugs an den Ästen. Änni mochte die Gradlinigkeit von Sommer und Winter, nicht dieses schmerzhafte Werden und Vergehen in Frühling und Herbst. In wenigen Stunden hätte sie ihr altes Leben zurück. Eine Änni von Hohenlohe würde niemals stinkende Windeln wechseln, sie würde nie ihre schönen Brüste durch ein Baby ruinieren lassen, nie schlaflose Nächte mit einem schreienden Kind verbringen, sie würde nie…
Der Wagen hielt vor der Praxis. „Macht 33 Euro.“ Der Taxifahrer, ein ganz junger Mann, drehte den Kopf und schien zu erschrecken. „Sie weinen ja.“
Erstaunt stellte Änni fest, dass er recht hatte. Nahezu unmerklich sickerten leise Tränen aus ihr heraus, benetzten ihre Wangen, flossen in ihre Mundwinkel. Nie hatte sie den süßen salzigen Geschmack so intensiv wahrgenommen. Änni wollte zahlen und gehen, stattdessen blieb sie einfach sitzen, gestrandet auf dem Rücksitz eines Taxis.
„Kann ich noch etwas für Sie tun?“ Der junge Mann war sichtbar unbeholfen.
Änni riss sich zusammen. „Ach so, ja, also nein, warten Sie.“ Sie kramte nach ihrer Geldbörse und drückte dem Fahrer 100 Euro in die Hand.
„Stimmt so, lassen Sie mich bitte nur noch ein bisschen hier sitzen. Ich bin gleich soweit.“
Zaghafte Sonnenstrahlen fanden den Weg durch die Wolkendecke. Ein Regenbogen bildete sich über den Dächern der Stadt und die Vögel erfanden neue Lieder.
Der junge Mann nickte. „Bisschen Musik?“, fragte er Änni.
„Ja, warum nicht?“, sagte sie, in der Hoffnung, Musik könnte diese Stille in ihr auslöschen und sie wieder auf Kurs bringen. Offensichtlich hatte die Hormonausschüttung genau jetzt zugeschlagen. Sie glaubte immer noch zu wissen, was zu tun war, aber irgendwie, irgendwie, tat es auch unendlich gut, hier zu sitzen und das alles zu fühlen. Der Mann drehte den Ton auf.
„Im Sturz durch Raum und Zeit, Richtung Unendlichkeit“ sang Nena wie für Änni persönlich. „Irgendwie, irgendwo, irgendwann, ich warte nicht mehr lang.“ Änni schluchzte auf. Seit 30 Jahren lebte sie mit einer Entscheidung, die eine verzweifelte 13-jährige getroffen hatte, nachdem ihre Eltern wieder einmal durch die Welt jetteten, anstatt mit ihrem Kind Geburtstag zu feiern. „Wann fängt die Zukunft an?“ grölte Nena aus dem Radio.
Auf einmal wusste Änni, dass sie hier nicht aussteigen würde. Jedenfalls nicht heute. Bis zur 12. Woche waren noch zwei Wochen Zeit. Es gab doch noch einiges zu bedenken. Ergebnisoffen. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben. Und es gab jemanden zu informieren. Sie musste diese Entscheidung nicht alleine treffen. Schließlich war es auch sein Kind.
Sie gab dem Fahrer eine neue Adresse.