Die Ermordung des Salvatore
Ich schlich mich leise die Treppen hinauf. Wie weit war es mit mir gekommen? Die Lilie hielt ich zärtlich in meiner Hand, wie ein dummer Teenager. Vor sieben Jahren bin ich mit Hemma zusammen diese Treppen gegangen. Nein, fröhlich hinaufgesprungen sind wir. Aber seitdem ich meine Pastorenstelle hier in Lossow angetreten habe, in Hemmas Geburtsort, hatte ich meine Wege stets so gelegt, dass sie nicht durch diese Gasse führten. Es hatte… Aah! Du heiliger Schreck! Fast wäre ich gestolpert. Die Lilie noch immer in der Hand, musste ich erstmal mein Herz beruhigen. Irgendetwas war unter mir. Etwas Weiches und gleichzeitig Festes. Ich hätte doch das Licht anmachen sollen. Aber meine Mission war eben eine dunkle, heimliche. Eine Teppichrolle? Vorsichtig stieg ich drüber. Noch eine Treppe weiter und ich müsste da sein, konnte die Blume vor Hemmas Tür legen. Sie würde wissen, vom wem sie ist. Iris variegata. Hemma liebte diese Lilie, die wild im Rheinland wuchs, wo wir so gerne gewandert sind. Das Internet hat sie mir ins Haus geliefert. Im Inneren gelbe Sonne, außen exotische Blüten mit feinen, purpurnen Adern durchzogen. Ein Kunstwerk.
Immer noch drehte sich das Karussell der Gefühle in mir, als ich meine eigene Wohnungstür aufschloss. Marthe kam sofort angeschossen, sie hatte geweint. „Warum kommst du so spät, Christian!“, schluchzte sie, „ich dachte, du wärst bei ihr.“
Natürlich hatte Marthe von Hemmas Ausstellung gelesen. Und in der Zeitung stand auch, dass Hemma hier in Lossow wohnen würde, in ihrer alten Wohnung. Hemma von Gurk’s Ausstellung im Dom zu Hohenstadt war seit Tagen die Schlagzeile. Eine Künstlerin von internationalem Rang, geboren in Lossow.
Hemma und ich waren unzertrennlich ab dem ersten Semester in Frankfurt am Main, beide Studenten der Theologie. Von Gurk ist ihr Künstlername, sie hatte immer schon ein Faible für Namen, jetzt hat sie dazu noch einen Manager namens Salvatore. Salvatore! Muss man sich mal vorstellen. Vielleicht ist er ja ein feuriger Liebhaber. Google hat mir kein Foto von ihm geliefert, auch keine anderen Informationen.
Hemma hat feuerrote, lange Locken und die Angewohnheit, ihre Jeans vorne in Kniehöhe waagerecht einzuschneiden. „Das bringt frischen Wind rein und macht beweglicher.“ Ich höre noch immer ihre Stimme.
Natürlich war ich bei Hemmas Ausstellungseröffnung und natürlich ohne Marthe. Aber als ich Hemma dann sah, bekam ich Angst und bin gegangen. Vielleicht hatte sie mich inzwischen vergessen. Sie trug immer noch Jeans mit Knieschnitten.
Marthe lag noch immer in meinen Armen. Ich konnte sie nicht trösten. Sie spürte unsere Entfremdung so deutlich, da halfen keine Worte.
„Jetzt beruhige dich mal, ich habe nur länger an meiner Predigt für Sonntag gearbeitet. Jetzt muss ich schlafen. Ich bin müde.“
Die zweite Lüge an einem Tag. Wenn man den Liliengang denn als Lüge bezeichnen wollte. Marthe würde es mit Sicherheit tun. Ich musste sie energisch von mir schieben. Wir wohnten nicht zusammen, aber sie hatte einen Schlüssel. Leider.
Die emotionale Erschöpfung dieses Tages ließ mich dann tief, fest und traumlos schlafen.
Frank, der Küster, erwartete mich am nächsten Morgen vor der Kirche: „Hast du schon gehört von Hemma von Gurk?“
„Ja, die Ausstellungseröffnung gestern im Hohenstädter Dom.“
„Nein, das meine ich nicht. Das mit der Leiche. Sie haben eine Leiche bei ihr im Haus entdeckt. Hier in Lossow. Lag im Treppenhaus. Ihr Manager.“
Gut, dass ich die Holzbank beim Eingang stehen ließ. Ich sank darauf nieder.
Sofort spürte ich es wieder unter mir: das Weiche und gleichzeitig Feste. Die Teppichrolle. Der Manager? Salvatore! Ihr Freund? War ich über eine Leiche gestiegen? Meine Fußabdrücke waren drauf. Ich trug gestern Abend andere Schuhe, vielleicht war Blut dran …
„Freddy hat erzählt, dass der ihre Rede holen sollte, also das Manuskript für die Rede, das Frau von Gurk vergessen hatte. Er kam dann aber nicht wieder und sie hat frei gesprochen, sie war toll. Die Mieterin im ersten Stock hat ihn dann heute Morgen gefunden. Wo warst du eigentlich? …Hallo … Christian!“
„Warum hat Hemma ihn nicht gefunden?“
„Sie war doch die ganze Nacht im Dom. Hatte diesen Meditationskreis mit zwölf Leuten, dafür konnte man Tickets kaufen und die ganze Nacht mit ihr in der Ausstellung verbringen, ihre Ikonen auf sich wirken lassen. Heute hieß es aber, es waren nur elf. Hat wohl keine zwölf Apostel zusammenbekommen…“ Frank lachte herzlich über seinen Scherz, „die von Gurk hat jedenfalls ein Alibi, sie war noch im Dom, als sie die Nachricht bekam. Soll sich aber nicht so toll mit ihm verstanden haben, sagt Freddy. Vielleicht hat sie ja einen Auftragskiller losgeschickt?“ Wieder lachte er.
„Ich muss nochmal los. Gerade merke ich, dass ich mein Manuskript für Sonntag auch zu Hause vergessen habe.“
„Pass auf, Manuskripte holen wird inzwischen als gefährlich eingestuft.“
Zuerst checkte ich meine Schuhe. Kein Blut zu sehen. Sie sahen unschuldig aus. Aber es gab doch solche Speziallampen, womit man auch unsichtbare Spritzer, kleinste Blutpartikel, sehen konnte. Also besser in die Mülltüte. Und dann entsorgen. Am besten im Nachbarort. Selbst wenn kein Blut drauf war, würden sie meine Fußabdrücke auf der Leiche finden. „Pastor aus Lossow schändet Leiche“. Ich sah die Schlagzeile vor mir.
Ruhig wie ein abgebrühter Killer fuhr ich die Landstraße entlang nach Osten und, wie eine Fügung des Himmels – Gott vergib mir! – standen dort graue Tonnen am Straßenrand. Ich parkte und schlenderte gemächlich durchs Örtchen. Kurzer Check einer Tonne, die war noch nicht geleert. Kurzer Schwung, meine Plastiktüte flog hinein. Ich ging noch ein wenig weiter mit meinem unverdächtigen Schritt, und es mutete schon wieder wie eine gute Fügung an, einen kurzen Augenblick später kam das Müllfahrzeug um die Ecke und ich konnte die Beseitigung von Beweisstück 1 mit eigenen Augen verfolgen.
Auf der Rückfahrt fühlte ich mich kein wenig besser. Natürlich hatte ich mich am Treppengeländer festgehalten. Fingerabdrücke. Sogar genau da, wo die Leiche lag. Sonst wäre ich ja hingefallen.
Iris variegata. Nicht im üblichen Blumenladen zu finden. Die lag noch immer vor Hemmas Tür. Oder vielleicht schon im Labor der Polizei. Fingerabdrücke an der Blume? Selbst wenn nicht, Hemma könnte der Polizei in Sachen Iris sicher weiterhelfen.
„Pastor tötet Nebenbuhler“. War der Manager ihr Freund?
In meiner Tasche hörte ich das Handy klingeln. Jetzt hatten sie mich. Sie waren auf meiner Spur.
Einatmen. Ausatmen. Nicht zu schnell fahren. Aber wohin sollte ich? Es hatte keinen Sinn. Ich fuhr nach Hause. Kein Blaulicht, keine Polizei vor der Tür. Nur eine Hemma.
„Hej, ich hab dich eben angerufen“, sagte sie, „Wollte fragen, warum du gestern nicht gekommen bist. Bist du immer noch sauer, dass ich keine Pastorenfrau in Lossow werden wollte?“
Bleich, tonlos und fragend blickte ich sie an.
„Ich hatte dir doch ein Ticket geschickt für meine Veranstaltung gestern im Dom. Für die Meditationsnacht. Weil du nicht gekommen bist, waren wir nur zu elft.“
Marthe! Jetzt zensiert sie schon meine Post.
„Ich hab sie nicht bekommen. Was ist mit deinem Manager?“
„Er ist die Treppe herabgestürzt vor meiner Wohnung und hat sich das Genick gebrochen. Salvatore war ein Betrüger, trotzdem ist es natürlich traurig. Ich hatte ihn gefeuert. Während ich im Dom war, wollte er in meine Wohnung einbrechen, aber dort stand Cerberus vor der Tür und der muss nicht mal bellen, nur gucken, du kennst ihn ja. Jedenfalls ist er dann die Treppe runtergejagt und – das Treppenlicht hat doch diese Zeitschaltuhr – war plötzlich im Dunkeln und ist ins Leere getreten… Ein Unfall, sagt die Polizei.“
„Und dein Manuskript?“
„Was für ein Manuskript?“
„Deine Rede.“
„Ich hatte nie ein Manuskript.“
„Ich dachte, ich wars.“
„Was?“ „Ich dachte wirklich, ich wars!“
„Was warst du, mein Manuskript?“
„Nein, vergiss es. Alles gut. Sogar sehr gut.“
„Ich habe viel an dich gedacht, im Treppenhaus habe ich eine Iris gefunden, die sah genauso aus wie die an den Weinbergmauern im Rheingau. Erinnerst du dich? Ja, und dann dachte ich, wenn du nicht zu mir kommst, komme ich eben zu dir. Hast du ein wenig Zeit für mich?“