Alles schläft, einsam wacht
Langsam schob Marianne ihren Rollator durch die Schiebetür und betrat die Apotheke. Der typische Geruch nach Hustenbonbons und gestärkten Kitteln umfing sie. Dankbar für die Wärme zog sie ihre Lederhandschuhe aus und rieb einmal kräftig die Hände aneinander.
„Guten Tag, wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“
Marianne sah auf. Eine junge Frau in einem weißen Kittel war hinter dem Verkaufstisch aufgetaucht. Etwas steif ging Marianne zu ihr.
„Ich habe hier irgendwo ein Rezept“, murmelte sie und begann, in ihrer Handtasche zu wühlen. Wo war das blöde Ding denn nur? Vielleicht in der Vordertasche? Marianne versuchte, den Reißverschluss aufzuziehen. Wie immer klemmte er.
Ein ungeduldiges Räuspern ließ sie aufblicken. „Einen kleinen Moment noch“, entschuldigte sich Marianne bei der Mitarbeiterin. Sie spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. „Der Verschluss klemmt immer, wissen Sie.“ In diesem Moment löste sich der Reißverschluss endlich. „Da ist es ja.“
Mit zitternden Fingern zog sie das Rezept hervor und übereichte es der Frau. Sofort ertönte das geschäftige Klappern von Fingern auf einer Tastatur. Die Apothekerin starrte auf ihren Bildschirm.
„Es ist furchtbar kalt geworden, nicht wahr?“ Marianne deutete auf das ungemütliche Winterwetter draußen vor der Apotheke.
„Hm.“ Die junge Frau nickte ohne aufzusehen.
„Mein Norbert, der mochte die Kälte immer“, startete Marianne einen neuen Versuch. Wie immer, wenn sie an ihren Mann dachte, überkam sie eine tiefe Traurigkeit. Sein Tod war zwar nun schon über ein Jahr her, aber ihr kam es vor, als wäre es erst gestern gewesen. Von wegen, Zeit heilt alle Wunden, dachte sie bitter.
„Es ist so traurig, wissen Sie? Wenn man so lange verheiratet war wie wir und gerade jetzt, wo es auf Weihnachten zugeht. Da ist man immer so allein und…“
„Ich habe Ihre Tabletten da“, unterbrach die Apothekerin sie. „Kleinen Moment.“ Eilig ging sie nach hinten und verschwand aus Mariannes Sichtfeld.
„Natürlich.“ Marianne senkte den Kopf. Sie sollte sich wohl wirklich angewöhnen, die Leute nicht mit ihren Problemen zu behelligen. Aber mit wem sollte sie sonst reden? Norbert war weg, Kinder waren ihnen nie vergönnt gewesen und aus der Nachbarschaft kannte sie auch niemanden. Tränen traten ihr in die Augen, als sie an ihr einsames Weihnachtsfest letztes Jahr dachte. Der einzige Mensch, den sie gesehen hatte, war der abgehetzte Bote des Caterers gewesen, der ihr regelmäßig Essen lieferte. Ach, wie vermisste sie ihren Norbert!
„Da sind sie.“ Die Apothekerin war zurück und legte eine kleine Schachtel auf den Tresen. „Die Schlaftabletten, die Ihnen der Doktor verordnet hat.“
Marianne nickte. „Ja, die helfen mir sehr gut, wenn ich mal wieder nicht schlafen kann.“ Sie griff nach der Schachtel. „Dann nehme ich ein oder zwei. Wenn man immer zu zweit geschlafen hat, vermisst man nachts doch etwas, nicht wahr?“
„Immer nur eine bitte!“ Die junge Frau zeigte endlich eine Reaktion und sah sie streng an. „Das ist die Dosierung, die der Arzt auf dem Rezept vermerkt hat und Sie wissen doch, die Nebenwirkungen der Tabletten sind nicht zu unterschätzen. Sie wollen ja am nächsten Morgen auch wieder aufwachen, oder?“ Wieder flogen die Finger der Mitarbeiterin über die Tastatur. „Das macht dann fünf Euro Zuzahlung, bitte.“
„Sofort.“ Marianne nestelte ihr Portemonnaie aus der Tasche und kramte in den Münzen. „Ich habe so viel Kleingeld. Kleinen Moment.“ Die Apothekerin stieß einen genervten Seufzer aus, sagte aber nichts. Demonstrativ klapperten ihre Finger wieder über die Tastatur, während Marianne sich mit dem Geld abmühte. Dass die Münzen sich aber auch alle so ähnlichsehen mussten! Nacheinander zählte sie sie auf den Verkaufstisch.
„Norbert hatte immer die besseren Augen als ich. Der wäre jetzt schneller. Aber so geht es ja auch, nicht wahr? Es ist ja nicht voll heute.“ Doch wieder einmal reagierte die Mitarbeiterin nicht auf Mariannes Worte. Endlich hatte sie das Geld abgezählt. „Schauen Sie mal, das müsste so stimmen.“
Die junge Frau begann, die Münzen zu zählen und Marianne verstaute die Tablettenschachtel in ihrer Handtasche. „Ach wissen Sie, vielleicht sehe ich Norbert ja bald wieder.“ Sie warf einen Blick auf die Apothekerin, doch die murmelte nur leise, während sie das Kleingeld nachzählte. „Vielleicht nehme ich doch ein paar mehr von den Tabletten.“ Marianne wartete auf eine Reaktion, doch es kam keine. Die Mitarbeiterin hörte ihr offensichtlich nicht mehr zu. Ein Gefühl unendlicher Einsamkeit überkam Marianne.
„Passt“, sagte die Frau in diesem Moment und legte das Kleingeld in die Kasse. Hinter Marianne klingelte es, als ein neuer Kunde die Apotheke betrat. „Frohe Weihnachten!“, sagte die junge Frau zu Marianne und wandte sich dann ab. „Guten Tag, wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“
Marianne drehte sich um und verließ langsam die Apotheke. Eisiger Wind empfing sie draußen. Ihre Hand krallte sich fest um den Riemen der Handtasche mit den Schlaftabletten darin.